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Gemeinwohl messbar machen – Methoden und Ziele

Ist ein Unternehmen gemeinwohlorientiert oder nicht? Auf diese scheinbar einfache Frage gibt es oft keine simple Antwort. Zu vielfältig sind die Kriterien und Definitionen für Gemeinwohl, zu groß die Bandbreite der damit zusammenhängenden Themen.

Gleichzeitig gibt es viele gute Gründe, den Beitrag eines Unternehmens zum Gemeinwohl beziffern zu wollen: Aus Unternehmenssicht können dadurch eigene Stärken und mögliche Verbesserungspotentiale identifiziert werden. Aus gesellschaftlicher Perspektive wird es so erst möglich, das Handeln von Unternehmen an ihrer gesellschaftlichen Wertschöpfung zu messen. Was ist oberflächliches Marketing unter dem Deckmantel des Gemeinwohls und was ein substanzieller Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohlergehen? Und auch, um Unterstützungsangebote und Förderstrukturen gezielt auf gemeinwohlorientierte Unternehmen auszurichten, braucht es geeignete Methoden, die den Beitrag zum Gemeinwohl und die Wirkungen unternehmerischen Handelns messbar zu machen.

Systematik der Gemeinwohlmatrix (nach Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e. V.)

Das eigene Unternehmen vermessen: Die Gemeinwohlbilanz

Zu den am weitesten verbreiteten Methoden zur Messung des eigenen Beitrags zum Gemeinwohl gehört die Gemeinwohlbilanz. Sie hat sich ausgehend von der um 2010 entstandenen Reformbewegung der Gemeinwohlökonomie entwickelt und zielt darauf ab, die Vielschichtigkeit des Themas systematisch abzubilden. In den vier Dimensionen Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung werden unterschiedliche Berührungsgruppen des unternehmerischen Handelns beleuchtet. Neben Eigentümer*innen, Finanzpartner*innen und Mitarbeiterenden widmet sich die Methode dabei auch Kund*innen, Lieferant*innen, Mitunternehmen sowie dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld.

In jedem der daraus resultierenden 20 Themenfelder der sogenannten Gemeinwohl-Matrix werden ausgewählte Verifizierungsindikatoren abgefragt, spezifische Positiv- und Negativaspekte erfasst und die Ergebnisse auf einer Skala von 0 bis 10 Punkten bewertet. Der Vielschichtigkeit wird dabei auch dadurch Rechnung getragen, dass am Ende nicht pauschal bewertet wird, ob ein Unternehmen gemeinwohlorientiert ist oder nicht. Stattdessen drückt sich die Bilanzierung in einem Punktewert zwischen 0 und 1000 aus, der den Stufen “Basislinie”, “Erste Schritte”, “Fortgeschritten”, “Erfahren” oder “Vorbildlich” zugeordnet ist. Einerseits wird dadurch deutlich: Gemeinwohlorientierung ist nicht nur ein Ergebnis, sie ist ein Prozess. Andererseits kann auch die Bilanz nicht auf den ersten Blick beantworten, wo ein gemeinwohlorientierter Anstrich aufhört und ein bedeutender Beitrag zum Gemeinwohl beginnt.

Um Vergleichbarkeit und Transparenz zu gewährleisten, sind Peer-Review-Prozesse, externe Auditierungen und eine Veröffentlichungspflicht für die Bilanzen vorgesehen. Der Aufwand zur Erarbeitung der Gemeinwohlbilanz ist in anbetracht der großen thematischen Bandbreite und der aufwendigen Prozesse indes sehr hoch – was uns nicht zuletzt die Erprobung bei im netz.NRW Verbund für Ökologie und soziales Wirtschaften e.V. gezeigt hat. Das kann auch die Möglichkeit zur Erstellung einer Kompaktbilanz (PDF, 7,2 MB) nur begrenzt abfedern. Inzwischen hat sich die Vorgehensweise so weit etabliert, dass über 750 Unternehmen eine Gemeinwohlbilanz veröffentlicht haben. Der hohe Aufwand dürfte aber ein Grund sein, warum diese Zahl im Vergleich zu den insgesamt über 3 Millionen Unternehmen in Deutschland bisher sehr gering bleibt.

Von der individuellen zur gesellschaftlichen Perspektive: Der Gemeinwohlatlas

Während die Initiative zur Erstellung der Gemeinwohlbilanz von den jeweiligen Unternehmen ausgeht und einen inneren Bilanzierungsprozess voraussetzt, widmen sich andere Methoden der gesellschaftlichen Wertschöpfung von Organisationen aus der Außenperspektive. Dazu zählt auch der GemeinwohlAtlas, den ein Team der HHL Leipzig Graduate School of Management in Kooperation mit dem Center for Leadership and Values in Society der Universität St.Gallen 2019 in der zweiten Ausgabe für Deutschland veröffentlicht hat. Ein Jahr später ist zudem eine lokale Ausgabe für die Stadt Leipzig erschienen.

Der Methodik des GemeinwohlAtlas liegen repräsentative Befragungen zu mehr als 130 Unternehmen und Organisationen unterschiedlicher Sektoren und Branchen zugrunde, die hinsichtlich ihres Beitrages zum Gemeinwohl bewertet wurden. Der Herangehensweise liegt dabei ein Gemeinwohlbegriff zu grunde, nach dem Gemeinwohl dann geschaffen wird, “wenn ein Individuum das soziale Kollektiv positiv erlebt.” Insofern ist die Beurteilung der knapp 12.000 Befragten ausschlaggebend für das Ergebnis. Ausgehend von verschiedenen menschlichen Grundbedürfnissen werden in den Befragungen Themen wie Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt, Lebensqualität und Moral beleuchtet.

Die Ergebnisse geben Aufschluss über die öffentliche Wahrnehmung einzelner Unternehmen und Organisationen in Deutschland. Sie zeichnen aber auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen nach – und legen beispielsweise offen, dass das Gemeinwohl durch aktuelle Krisen für viele Menschen in Deutschland deutlich an Bedeutung gewonnen hat.

Fiktive Public Value Scorecard (nach Timo Meynhardt / Peter Gomez)

Das richtige Messinstrument für die individuelle Situation finden

Der GemeinwohlAtlas, der den Fokus auf die öffentliche Wahrnehmung legt, und die Gemeinwohlbilanz, die auf eine vielschichtig angelegte Evaluation des unternehmerischen Handelns zielt, decken eine erhebliche thematische Bandbreite ab und erfordern umfassende Erhebungen. Ihnen stehen spezialisiertere und überschaubare Ansätze gegenüber, die darauf abzielen, den Effekt auf das Gemeinwohl hinsichtlich einzelner Fragestellungen und Entscheidungen zu überprüfen.

Dabei können Konzepte wie die Public Value Scorecard helfen. Im Rahmen von Befragungen und Workshops werden die jeweiligen Themen dabei hinsichtlich fünf Dimensionen diskutiert und bewertet: Ist es anständig? Ermöglicht es positive Erfahrungen? Ist es politisch aktzeptabel? Ist es sachlich gerechtfertigt? Und nicht zuletzt: Ist es profitabel? Die Ergebnisse helfen, die Einschätzungen zu potentiellen Auswirkungen der Entscheidungen auf das Gemeinwohl zu visualisieren und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

Umfassende und thematisch breit aufgestellte Methoden zur Vermessung des Gemeinwohl-Beitrags liefern wichtige Informationen zur Ausgangslage und zu möglichen Entwicklungsperspektiven. Entscheidungsorientierte Ansätze wie die Public Value Scorecard zeigen jedoch auch: Sie sind keinesfalls zwingende Voraussetzung, um damit zu beginnen, negative Auswirkungen des eigenen unternehmerischen Handelns zu reduzieren und positive Wirkung zu entfalten.

Das Spektrum der Möglichkeiten zur Messung von Gemeinwohl und unternehmerischer Wirkung ist damit nur angerissen. Einen Überblick über die Vielfalt der Ansätze bietet beispielsweise das Global Value Toolkit. Die Wahl der passenden Herangehensweise hilft, zielgerichtete Bestandsaufnahmen zu erarbeiten. Diese bieten im nächsten Schritt eine belastbare Grundlage dafür, die Voraussetzungen und Wirkungen des eigenen unternehmerischen Handelns einzuschätzen, sowie passende Ziele und Maßnahmen zu definieren, um die Gemeinwohlorientierung im Unternehmen weiterzuentwickeln.

Mehr Wissensdurst? In der ersten Folge von „Um:Orientierung – Gemeinwohlwissen für Unternehmen“ geben die Gemeinwohl-Beraterin Claudia Schleicher und Timo Meynhardt, einer der Autoren des Gemeinwohlatlas, Einblicke und Ausblicke rund um die Messbarkeit des Gemeinwohls.


Die Europäischen Union fördert in Deutschland zusammen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz Programme und Projekte als Teil der Reaktion der Union auf die COVID-19-Pandemie, finanziert aus der Aufbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas (REACT-EU) im Rahmen von NextGenerationEU.

Der Podcast Um:Orientierung wird durch das Förderprogramm “REACT with impact – Förderung des Sozialunternehmertums” finanziert.